< Zurück
Drucken

Die Odyssee von Na’boots, „Der ohne Schuh“ (Auszug aus der Outer West Bibel, Band 2)

So fanden die Originees die Mitte von Makazanzan, die große Kreuzung. Aqui Lanka sah im verwehten Sand im Wind die Vision eines riesigen Baumes aus dem Norden zu Fuße der großen Berge, aus dem ein Totempfahl, der Aan-tem Lanka, geschnitzt werden sollte und hier am Mittelpunkt aufgestellt. Zu Ehren der Geister und als Versammlungspunkt für alle Stämme. So erzählte er es den anwesenden Kindern der Stämme.

Ein Streit brach los innerhalb der Gruppe. Wer sollte die Ehre haben, den Baum zu besorgen? Der geschickteste Jäger? Der stärkste Krieger? Der schnellste Läufer? Der beste Handwerker?

Nur einer beteiligte sich nicht an der Diskussion. Da war der junge Na’boots, „Der ohne Schuh“, der sich noch keinen Namen gemacht und seinen Weg noch nicht gefunden hatte. Er stand verlegen abseits und scharrte mit seinen Zehen verunsichert im Boden. Aqui Lanka sah zuerst in sein Gesicht und dann erblickte er ihn wirklich.

Aqui Lanka hob seine Hand und verkündete: „Meine Wahl ist gefallen. Der junge Na’boots wird den Baum finden und hierherbringen.“.

Die anderen versuchten auf den großen Traumtänzer einzureden. Der Junge war doch weder stark noch flink, weder geschickt noch weise, weder ein guter Jäger, Krieger oder Handwerker. Jedoch der große Traumtänzer ließ sich nicht abbringen. Nochmals verkündete er: „Der junge Na’boots wird den Baum finden und hierherbringen. Ho!“.

Der Jüngling war voller Angst und Selbstzweifel, ob er denn eine so große Aufgabe schaffen würde. Da sprach der Geistertänzer aufmunternd zu ihm und gab ihm drei Geschenke mit auf den Weg. Das erste war ein Messer aus schwarzem Stein, welches zehnmal so scharf war wie ein gewöhnliches Messer. Das zweite war eine große Yams-Wurzel, welche zehnmal so sättigend sein sollte wie eine gewöhnliche Wurzel. Das dritte und letzte war ein Wasserschlauch aus Hirschleder, welcher zehnmal so viel Wasser fasste wie ein gewöhnlicher Wasserschlauch.

So brach der Junge auf. Doch er war kein guter Jäger, so verlor er schnell die Orientierung. Da er die Geschenke von Aqui Lanka nicht leichtfertig benutzen wollte, hungerte er tagelang und litt Durst. Er teilte sich seine kümmerlichen Vorräte ein und überlegte zweimal, bevor er einen Bissen aß. Trotzdem zog er weiter, von der Prärie bis zum Wald, und der kurze Weg erschien ihm wie mehrere Mondzyklen. Zweimal wurde er dabei fast von wilden Pferden niedergetrampelt, einmal trat er unabsichtlich in einen Wespenbau und wurde grässlich zerstochen. Er entkam nur knapp einem Berglöwen, in dem er in ein Sumpfloch fiel und fast ertrank. So lernte Na’boots Entbehrung, Zähigkeit und Vorrat zu halten.

Im Wald erging es ihn nicht besser. Zwar hatte Regen eingesetzt und somit konnte er seinen Durst stillen. Doch der Hunger war groß und der Weg beschwerlich. In den Flüssen und Bächen fing er ungeschickt seine ersten Fische, grub an den Ufern mühsam nach Wurzeln und pflückte Beeren. Trotzdem zog er weiter, immer tiefer in die Wälder des Nordens, und der kurze Weg erschien ihm wieder wie mehrere Mondzyklen. So erlernte Na’boots das Fischen und das Sammeln.

Eines Abends tief in den Wäldern entdeckte er da plötzlich ein Lager eines Jägers. Die dichtesten Felle waren da gestapelt und an einem Ast hing der prächtigste Bogen und Köcher, welche er je gesehen hatte. Da entdeckte er auch die Kleider und erkannte sie mit Erstaunen als die einer Jägerin aus ihm unbekannten Leder. Aufmerksam sah er sich um, denn irgendwo musste ja die Besitzerin sein und das ganz ohne Kleidung. In der Nähe hörte er das Platschen von Wasser, in diese Richtung schlich er. Da sah er die Jägerin, welche gerade in einem Teich badete. Den Atem verschlug es ihm ob ihrer Kraft, ihres Wuchses und ihrer Ausstrahlung. Sie schien ein gesegnetes Kind des Großen Geistes zu sein. Von ihr musste er unbedingt Aqui Lanka erzählen. Jedoch waren einige Tiere des Waldes als Wachen der Badenden auf der Hut. Ein Indigofink bemerkte ihn, flatterte auf und verriet so den Jüngling.

Die Jägerin im Teich blickte Na’boots mit dem Zorn des Bären an. In seinem Kopf hörte er ihre Stimme hallen wie das Schnalzen einer Bogensehne: „Ich bin nicht deine Beute, an die du dich anschleichen kannst. Spüre am eigenen Leib wie es ist, als Beute gejagt zu werden. Entkommst du einen vollen Mond lang, sollst du frei sein!“.

Bei diesen Worten erhoben sich ein mächtiger Elch, ein riesiger Keiler, ein prächtiger Falke und ein flinkes Opossum aus dem Ufergebüsch und kamen auf den Jungen zu. Der Elch war so hoch wie ein Tipi, der Keiler so groß wie ein Bison, der Falke so kräftig wie ein Adler und das Opossum so schnell wie ein Puma. Da sprang der Jüngling aus seinem Versteck und rannte so schnell ihn seine nackten Füße tragen konnten davon. Immer tiefer in die Wälder ging es, ohne Rast und ohne Ruhe. So erlernte Na’boots das Laufen und Klettern und Ausdauer.

Nach einer Woche der Flucht vor den Tieren kam er durch dorniges Gebüsch, es zerkratzte und zerstach seine Haut. Mit Mühe kam er vorwärts, aber vielleicht würde es seine Verfolger abschütteln. Als er fast hindurch war, hörte er hinter sich ein Röhren. Der mächtige Elch war in den Schlingen und Dornen hängen geblieben und konnte weder vor noch zurück.  Na’boots wollte schon weiter flüchten, doch in seinem Herzen spürte er Mitleid mit dem Tier. So kämpfte er sich zurück, zückte das scharfe Steinmesser und durchtrennte die Ranken. Der befreite Elch blickte ihn kurz an, neigte sein riesiges Geweih und trabte dann davon.

Nach einer weiteren Woche der Flucht kam er an die kargen Hügel der Prärie. Sein Bauch knurrte, jedoch blieb ihm keine Zeit zur Rast. Mit Mühe kam er vorwärts, aber vielleicht würde es seine Verfolger abschütteln. Als er fast die Hügel überquert hatte, hörte er hinter sich ein Quieken. Der riesige Keiler war abgemagert und kraftlos zusammengebrochen. Na’boots wollte schon weiter flüchten, doch in seinem Herzen spürte er Mitleid mit dem Tier. So ging er zurück, zog die Yams-Wurzel aus dem Beutel und gab sie dem Keiler zum Fressen. Gesättigt blickte ihn das Tier kurz an, neigte sein großes Haupt und trabte dann davon.

Nach einer weiteren Woche kam er in die glühend heiße Hitze der Wüste. Seine Haut war rot von der erbarmungslosen Sonne und seine Kehle brannte vor Durst, jedoch blieb ihm keine Zeit zur Rast. Mit Mühe kam er vorwärts, aber vielleicht würde es seine Verfolger abschütteln. Als er fast die Wüste durchquert hatte, hörte er hinter sich einen dumpfen Aufschlag. Der prächtige Falke war zu Boden gestürzt, am Verdursten und die Federn verklebt vom Sand. Na’boots wollte schon weiter flüchten, doch in seinem Herzen spürte er Mitleid mit dem Tier. So ging er zurück, nahm den Wasserschlauch von der Schulter und gab dem Vogel zu trinken und wusch sein Gefieder. Der gerettete Falke blickte ihn kurz an, neigte seinen Kopf mit dem scharfen Schnabel und flog dann davon.

In der letzten Woche der Flucht kam der junge Krieger wieder in die Wälder. Seine Haut war mittlerweile wettergegerbt und zäh wie Leder, seine Muskeln und Lunge stark vom Laufen und Klettern. Er kam mühelos vorwärts, seinen letzten Verfolger konnte er nicht erspähen. Na’boots watete durch eiskalte Bäche, erklomm steile Felsen, sprang über Schluchten, er schlich und verbarg sich. Als er fast an den Bergen des Nordens angekommen war, hörte er hinter sich ein leises Trillern. Er drehte sich um, doch da war niemand. Als Na’boots schon wieder weiterlaufen wollte, bemerkte er, dass das Opossum die ganze Zeit schon in seinem Beutel herumgetragen hatte, es sich dort ein Nest gebaut hatte und schlief. Na’boots wollte schon weiter flüchten, doch in seinem Herzen spürte er Mitleid mit dem Tier. Also ließ er das Opossum in seinem Beutel wohnen. Dieses blickte ihn kurz schlaftrunken an, neigte kurz seinen Kopf und schlief weiter.

So verging der Mondzyklus der Jagd auf ihn und Na’boots war frei. Außerdem war er an den Bergen angekommen, so machte er sich auf die Suche nach dem Baum für den Pfahl. Bald wurde er fündig! In der Nähe einer großen, ebenen Fläche neben dem größten Wasserfall, welchen er je gesehen hatte, wuchs eine gigantische rote Zeder, wie sich Aqui Lanka beschrieben hatte. Von Glück erfüllt näherte sich Na’boots ihrem mächtigen Stamm.

Jedoch wohnten dutzende giftige Nattern in den Wurzeln des Lebensbaums, die nach ihm schnappten, so dass sich der Jüngling nicht nähern konnte. Da sprang das flinke Opossum hervor und verjagte die Schlangen.

Na’boots näherte sich weiter dem Stamm. Jedoch wohnten dutzende Bergkrähen in den Ästen des Lebensbaums, die nach ihm hackten, so dass sich der Jüngling nicht nähern konnte. Da flog der prächtige Falke daher und verjagte die Rabenvögel.

Na’boots näherte sich weiter dem Stamm. Jedoch in der Rinde wohnten unzählige giftige Insekten, Tausendfüßler und andere Krabbeltiere, die ihn beißen, zwicken und stechen wollten, so dass sich der Jüngling nicht nähern konnte. Da sprangen der Elch und der Keiler aus dem Wald hervor. Der Elch schabte mit seinem Geweih die Rinde samt dem Getier vom Baum und der Keiler fraß es auf.

Der Jüngling bedankte sich bei den Tieren für deren Hilfe und sie waren wie Schwester und Bruder und eins im Großen Geist. Endlich kam Na’boots am Stamm an. Wie sollte er den Baum denn nun fällen? Das Steinmesser war dafür zu kurz.

So schlug er sein Lager unter den Ästen der roten Zeder auf und dachte über einen Plan nach. Bald war er eingeschlafen, denn die Hatz durch ganz Makazanzan hatte ihn erschöpft. So schlief er drei Tage lang, während das Opossum auf ihn Acht gab. Dann wurde er wach durch ein Krachen und Platschen.

Er fuhr hoch und sah ein halb Dutzend seltsam anmutende Gestalten von hinter dem riesigen Wasserfall hervorkommen. Sie sahen fast so aus wie Menschen, jedoch kleiner, dafür breit und muskulös gebaut. Sie hatten lange Haare und sogar dichtes Haar im Gesicht. Gekleidet waren sie in teils metallene Gewänder und sie waren voller Erde und Staub. Sie trugen große Beile bei sich und Hämmer und Werkzeuge, ebenfalls aus Metall. Für Na’boots sahen sie wie aufrecht gehende Dachse aus, in der Sprache der Originees „Grizz-lee“ (wortwörtlich „Kleiner Bär“) genannt. Bei sich hatten sie komische große Kisten aus Holz, bis oben vollgepackt mit Dingen. Diese Kisten rollten auf Rädern und wurden anscheinend mühelos von kleinen grauen Pferden mit Hasenohren gezogen. Na’boots hatte eben noch nie Zwerge, Wagen und Esel gesehen.

Vorsichtig näherte er sich der Gruppe und begrüßte sie freundlich. Zuerst schienen sie misstrauisch. Als sie jedoch erkannten, dass Na’boots allein war, legte sich das rasch. Zuerst konnte der junge Native nicht verstehen, was die Fremden sprachen, doch bald wurde ihre Sprache deutlicher und sie konnten sich verständigen. Es waren die sechs Häuptlinge ihres Stammes, einen hatten sie auf ihren Weg durch den Berg verloren. Sie waren hierhergekommen, um sich niederzulassen. Sie fragten Na’boots nach einem guten Platz dafür. Der Ort solle nicht weit weg vom Gebirge sein, am besten mit einem Fluss in der Nähe. Der Jüngling sah sich um und schlug ihnen diese Ebene beim Wasserfall vor.  Das freute die Zwerge und sie fragten ihn, was er dafür haben wolle. Da hatte Na’boots eine Eingebung.

„Werte Kinder des Dachses, wenn ihr mir mit euren Beilen helfen würdet, diesen großen Baum dort drüben zu fällen und mir eine eurer rollenden Kisten überlassen würdet, wäre das wunderbar.“

Die Gruppe beratschlagte kurz und sie gingen darauf ein. Mit ihren Äxten fällten sie den Baum innerhalb nur eines Tages. Da sie nicht mehr weiterziehen mussten, luden sie einen ihrer Wagen leer und gemeinsam hievten sie den mächtigen Baum darauf. Aus Dankbarkeit schenkten die Zwerge Na’boots noch eines ihrer Beile und als Ersatz für seine zerschlissenen Gewänder eine Weste aus Eselleder. Er bedankte sich bei ihnen und zog allein den Wagen mit dem Baumstamm Richtung Süden, denn aus ihm war mittlerweile ein kräftiger Mann geworden.

In nur wenigen Tagen erreichte er die Mitte Makazanzans. Die anderen seines Stammes erkannten ihn zuerst gar nicht, denn für sie war nur knapp ein halber Mondzyklus vergangen. Doch als er sprach, da erschauten sie ihn und begrüßten ihn mit Freude zurück in ihrer Mitte. Sie machten sich gleich alle an die Arbeit. Aus den Ästen der roten Zeder bauten sie Unterstände, aus dem Rindenbast flochten sie Kleidung und Seile und Körbe für den ganzen Stamm.  Und aus dem Baumstamm selbst schnitzten sie einen Pfahl, so wie es der große Traumtänzer gesehen hatte.

Während der Arbeit erzählte Na’boots dann Aqui Lanka von der badenden Jägerin im Wald. Und der Traumtänzer sah sie im Flug der Vögel und im Treiben der Wolken und er erkannte, was noch kommen würde. Und so lächelte er und weinte eine einzelne Träne.

War dieser Artikel hilfreich?
5 von 5 Sternen

1 Bewertung

5 Sterne 100%
4 Sterne 0%
3 Sterne 0%
2 Sterne 0%
1 Sterne 0%
Wie können wir diesen Artikel verbessern?
Please submit the reason for your vote so that we can improve the article.
Inhalt